Editorial: Seht, der Mensch

Pilatus führt den blutig geschlagenen, verspotteten, von Schmerzen gezeichneten Jesus mit Dornenkrone und Purpurmantel aus seinem Palast heraus. Für Pilatus ist Jesus ohne Bedeutung. Er erwähnt nicht einmal seinen Namen. Er ist ein Angeklagter unter vielen. Pilatus gibt zu, dass es gar keinen Grund dafür gäbe, Jesus zu verurteilen. Am liebsten würde Pilatus dieses Kapitel hinter sich lassen. Er hat gehofft, dass ein blutig gepeitschter Jesus die Menschen dazu bringen würde, dass sie sagen: „Das genügt, lass ihn frei.“ Er präsentiert Jesus den Menschen, die vor dem Hause warten, mit den Worten: „Seht, der Mensch!“ (Joh 19,5) Er reiht sich damit ein in eine Reihe von Menschen, die unfreiwillig eine bedeutende geistliche Wahrheit aussprechen, ohne es zu wissen oder zu wollen.

Was ist die tiefe geistliche Bedeutung hinter der Aussage „Seht, der Mensch!“?

In dieser Aussage hören wir Echos aus der Anfangszeit der Schöpfung. Gott hatte Adam und Eva erschaffen und in den Garten Eden gesetzt. Sie lebten in einem perfekten und sorgenfreien Umfeld. Doch Adam und Eva haben sich dazu entschieden, Gott ungehorsam zu sein und eigene Wege zu gehen. Nachdem sie von der verbotenen Frucht gegessen hatten, ist Gott im Garten Eden unterwegs. Gott findet Adam und Eva nicht.

Er ruft nach ihnen: „Mensch, wo bist du?“

Der ungehorsam gewordene Mensch versteckt sich vor Gott. Er ist sich seiner Schuld bewusst, aber er versucht den Konsequenzen aus dem Weg zu gehen.

Ganz anders der andere Mensch. Er ist einerseits unschuldig. Aber als er festgenommen, beschuldigt und angeklagt wird, da stellt er sich der Situation. Er flieht nicht. Er versteckt sich nicht.

So wie der erste Mensch uns in die Gottesferne geführt hat, so führt uns der neue Mensch zurück in die Nähe Gottes. Durch sein Beispiel wird Jesus uns zum Vorbild. Selbst in schwierigsten Zeiten bleibt er seinem himmlischen Vater treu und sucht nicht den einfachen Ausweg. Er erduldet Unrecht durch Menschen, weil er weiß, dass am Ende nur das Urteil Gottes Bestand hat und von Bedeutung ist. Obwohl er unschuldig ist, ist er aus Liebe zu uns bereit, sein eigenes Leben zu geben, damit unsere Schuld vergeben wird.

In dieser Hinsicht ist Jesus der Mensch – das Musterbeispiel dafür, was es bedeuten sollte Mensch zu sein.

Pilatus hat das nicht geahnt. Dennoch hat er eine Wahrheit ausgesprochen, die tiefgründig und bedeutend ist. Eine Wahrheit, die auch dein Leben bewegen und verändern kann.


Dieser Text erschien im Gemeindebrief für die Monate März – Mai 2022 der EFG Augustfehn.