Kleine Schule der Bibelauslegung: Wie können wir die Bibel auslegen?

Nachdem wir beim letzten Mal darüber nachgedacht haben, wozu wie die Bibel auslegen wollen, machen wir uns jetzt erst Gedanken darüber, wie das überhaupt möglich ist.

“Wie ist das möglich?“ beinhaltet gleich zwei Fragen:

  1. Wie kommt es überhaupt, dass wir in der Lage sind, die Bibel auszulegen?
  2. Wie – also mit welchen Mitteln – können wir uns der Auslegung der Bibel widmen?

Gottes Wort in menschlichen Worten

Gott hätte verschiedene Wege gehen können, um uns Menschen seine Gedanken weiterzugeben. Er hätte es dabei belassen können, zu bestimmten Menschen direkt zu sprechen, die als einzige berechtigt wären, uns seine Worte weiterzugeben. Er hätte überall auf der Welt übernatürliche Lautsprecher aufstellen können, die uns auf Nachfrage seine Gedanken weitergeben. Er hätte auch den Weg wählen können, seine Gedanken direkt ins Gehirn jedes Menschen zu übertragen.

Gott hat aber einen anderen Weg gewählt. Dieser Weg macht es notwendig, dass wir uns Gedanken darüber machen müssen, was Gott uns eigentlich genau sagen möchte; gleichzeitig macht dieser Weg es aber auch möglich, dass wir uns genau diese Gedanken überhaupt machen können.

Um genau zu sein, muss man dazu anmerken, dass Gott einen Weg gewählt hat, der viele verschiedene Zwischenschritte beinhaltet. Das Endergebnis dieses Weges ist die Bibel, die wir heute in unseren Händen halten dürfen. Die Bibel ist eine Sammlung von 66 Büchern, die von ca. 40 Autoren über einen langen Zeitraum verfasst worden sind. Ein Teil der Bücher sind Briefe; ein Teil sind Erinnerungen; ein Teil geht darauf zurück, dass Gott direkt zu Menschen gesprochen hat; ein Teil sind Sammlungen von Weisheiten; ein Teil sind Lebensberichte etc. Wie es zur Entstehung der einzelnen Bücher gekommen ist, ist sehr bunt und vielfältig.

Zwei Dinge haben alle Bücher aber gemein:

1. Sie alle gehen im Ursprung auf Gottes Initiative und seine Gedanken zurück. Petrus schreibt dazu in 2Petr 1,20f:

„In diesem Zusammenhang ist es von größter Wichtigkeit, dass ihr Folgendes bedenkt: Keine einzige prophetische Aussage der Schrift ist das Ergebnis eigenmächtiger Überlegungen des jeweiligen Propheten. Anders gesagt: Keine Prophetie hat je ihren Ursprung im Willen eines Menschen gehabt. Vielmehr haben Menschen, vom Heiligen Geist geleitet, im Auftrag Gottes geredet.“

Und Paulus schreibt in 2Tim 3,16:

“Denn alles, was in der Schrift steht, ist von Gottes Geist eingegeben, und dementsprechend groß ist auch der Nutzen der Schrift: Sie unterrichtet in der Wahrheit, deckt Schuld auf, bringt auf den richtigen Weg und erzieht zu einem Leben nach Gottes Willen.“

2. Gott hat sich dafür entschieden, seine Gedanken für uns in menschlichen Worten auszudrücken, aufgeschrieben durch Menschen mit ganz verschiedenen Persönlichkeiten, Fähigkeiten und Lebensgeschichten. Die Bibel ist nicht als fertiges Buch vom Himmel gefallen und Gott hat den Menschen auch nicht alles Wort für Wort diktiert. Vielmehr hat der Heilige Geist die Schreiber der Bibel so begleitet und angeleitet, dass sie in ihrer jeweils eigenen Art und Weise genau das aufgeschrieben haben, was Gott durch sie weitergeben wollte.

Die Bibel ist also Gottes Wort, dass uns durch menschliche Worte weitergegeben worden ist. Nur deshalb können wir diese Worte Gottes überhaupt verstehen. Aber weil die Autoren der Bibel aus einer ganz anderen Zeit und Kultur stammen als wir und auch in einer anderen Sprache geschrieben haben, verstehen wir nicht immer sofort, was genau sie mit ihren Worten sagen wollen. Wir sind herausgefordert, uns ganz intensiv auf deren Worte und Gedanken einzulassen um sie für unsere Zeit verständlich werden zu lassen.

Wege zur Bibelauslegung

  1. Die Aussagen der Bibel müssen aus ihrer eigenen Zeit und ihrem eigenen Umfeld heraus verstanden werden. Wir müssen zuerst fragen: Was wollte der Schreiber damals den Menschen seiner Zeit weitergeben und wie hätten die Menschen, die diese Texte gelesen haben, sie verstanden? Der Autor hat seine Texte ja nicht mit dem Wissen im Hinterkopf geschrieben, dass da jemand in mehreren tausend Jahren in Norddeutschland sitzt und seinen Text liest. Natürlich hat Gott das gewusst. Darum enthalten die Aussagen der Schreiber zeitlose Wahrheiten und sind nicht nur für die damalige Zeit von Bedeutung. Aber trotzdem ist der Text zunächst einmal ganz auf die Leser in der damaligen Zeit ausgerichtet. Wir müssen jeden Text also zunächst einmal in seiner eigenen geschichtlichen Wirklichkeit ernst nehmen. Nur wenn uns das gelingt, können wir die nächsten Schritte gehen und den Text für uns fruchtbar werden lassen. Wenn ich die geschichtliche Wirklichkeit der Texte ignoriere und mit der Haltung an die Bibel herangehe, dass alles, was dort geschrieben ist, direkt an mich gerichtet ist und eine tiefere geistliche Bedeutung für mich haben muss, kann ich schnell zu viel in die Texte hineinlesen. Ein gutes Beispiel ist 2Tim 4,13. Paulus schreibt dort in einem Brief an seinen Mitarbeiter Timotheus: „Bei Karpus in Troas ließ ich meinen Mantel zurück. Bring ihn mit, wenn du kommst, und ebenso die Buchrollen, vor allem die Pergamente.“ Dieser Vers hat in meinen Augen keine tiefere geistliche Bedeutung für uns heute. Dieser Vers steht im 2. Timotheusbrief deshalb drin, weil es sich um einen Brief von Paulus an Timotheus handelt und weil Paulus seinen Mantel in Troas vergessen hat und jetzt Timotheus bittet, diesen mitzubringen, wenn er kommt. Das ist alles. Es gibt auch viele andere Stellen in der Bibel, die uns einen geschichtlichen Einblick in bestimmte Situationen geben, ohne dass ich daraus automatisch eine geistliche Wahrheit für mich heute ableiten könnte oder müsste.
  2. Umgekehrt gibt es große Teile der Bibel, bei denen es tatsächlich möglich und auch notwendig ist, die über alle Zeiten gültigen geistlichen Wahrheiten zu erkennen und zu benennen. Das ist dann auch der zweite Schritt in der Auslegung der Bibel, nachdem ich verstanden habe, was der Text in der damaligen Zeit für die damaligen Leser ausdrücken wollte. Dazu muss ich mir die Frage stellen, ob und was mir der Text über die grundlegende Wirklichkeit unserer Welt zeigen kann und will. Mir selbst helfen dabei zunächst drei Fragen: Kann ich in diesem Text etwas über Gott und sein Wesen lernen? Kann ich in diesem Text etwas über mich als Menschen lernen? Und kann ich in diesem Text etwas darüber lernen, wie Gott und Mensch miteinander unterwegs sind; wie also der Mensch auf Gott reagiert und wie Gott auf den Menschen reagiert? Weitere Fragen bei diesem Schritt wären auch: Formuliert der Text bestimmte allgemeingültige Anweisungen und Vorgaben? Gibt der Autor selbst Hinweise darauf, dass das, was er schreibt, nicht nur für eine bestimmte Situation gedacht ist, sondern eine grundlegende und überzeitliche Gültigkeit besitzt?
  3. Im dritten Schritt frage ich mich dann, wie ich das, was ich verstanden und herausgearbeitet habe, in meiner persönlichen Situation anwenden und fruchtbar werden lassen kann und muss. Frage ich im ersten Schritt „Was sagt der Text?“, so frage ich im dritten Schritt: „Was hat der Text mir zu sagen?“ Wo ermutigt und tröstet er mich? Wo schenkt er mir einen neuen Blick für Gott, für mich und meine Situation und für mein Leben? Wo fordert der Text mich aber auch heraus und gibt mir Warnungen oder Ermahnungen mit auf den Weg? Alles das sind Fragen, die mir helfen können, die Texte von damals in mein Leben heute hineinsprechen zu lassen.

Dieser Text erschien im Gemeindebrief für die Monate Dezember 2021 – Februar 2022 der EFG Augustfehn.