Editorial: Die doppelte Liebe

Wenn es etwas gab und gibt, auf dass die Juden – zu Recht – sehr stolz sind, dann ist es die Tora: Die Fünf Bücher Mose. Und innerhalb dieser fünf Bücher haben vor allem die von Gott an das Volk übergebenen Gebote eine große Rolle im Leben des Volkes eingenommen.

Eine häufige Streitfrage unter jüdischen Gelehrten war: welches dieser Gebote ist das Wichtigste?

Einer dieser Gelehrten kam mit dieser Frage zu Jesus. Jesus antwortete ihm:

Mk 12,29 Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. 30 Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. 31 Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.

Jesus bricht die 613 Gebote des Alten Testaments herunter auf ein Doppelgebot: Liebe Gott und deinen Nächsten.

Manchmal besteht die Gefahr, dass wir den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. So ist es auch den Juden ergangen. Sie haben so viel Wert auf die einzelnen Gebote gelegt, dass sie die Idee hinter Gottes guten Geboten aus den Augen verloren haben: Sie sollen uns helfen ein gutes und erfülltes Leben zu leben. Sie sollen uns und unsere Mitmenschen befähigen und ermächtigen, und nicht unnötig eingrenzen und beschränken.

Jesus hat das seinen Mitmenschen auf die für ihn typische, elegante Art und Weise wieder neu vor Augen geführt.

613 Gebote einzuhalten klingt zunächst sehr kompliziert. Und die Liebe als wichtigstes Gebot, das klingt zunächst vielleicht zu simpel.

Im Grunde ist es aber genau umgekehrt: Bei 613 Geboten hat man eine klare Vorgabe dafür, was richtig und falsch ist. Jeder weiß, woran er ist. Ich habe eine klare Orientierung.

Habe ich aber nur die Liebe als Orientierung, dann bin ich herausgefordert, in den verschiedenen Situationen im Leben reife und verantwortliche Entscheidungen zu treffen: Drücke ich durch diese oder vielleicht doch durch jene Entscheidung meine Liebe zu Gott und meine Liebe zu meinen Mitmenschen aus? Das ist nicht immer so einfach zu beantworten.

Auf der einen Seite macht es Jesus uns einfach: Liebe Gott und deinen Nächsten. Einfacher kann man es kaum ausdrücken.

Auf der anderen Seite fordert Jesus uns dadurch enorm heraus: Nämlich dazu, nicht einfach eine Liste von Geboten abzuarbeiten, sondern sich ernsthaft und bewusst mit Gott und unseren Mitmenschen auseinanderzusetzen.

Dazu möchte ich auch uns ermutigen!